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Liebe Leser und Leserinnen,
Langsam aber sicher kehrt wieder ein Stück Normalität ein. Viele Menschen arbeiten wieder vor Ort in ihren Büros, Kinder gehen wieder gruppenweise in die Schule, Restaurants sind wieder geöffnet und das Reisen in bestimmte Länder ist auch wieder möglich. Diese wiedergewonnene Normalität fühlt sich gut. Vor allem, weil es keinen rasanten Anstieg der Neuinfektionen gibt. Auch ich fühle mich gut. Endlich kann ich wieder etwas vom „normalen“ Leben genießen: Ich kann wieder mit meinem Mann essen gehen, wieder einen Film im Kino anschauen oder wieder mit einer Freundin im Café sitzen.
Doch der Schein trügt - so normal wie früher ist nichts. Daran erinnert mich meine Mund- und Nasenmaske. Sie erinnert mich aber auch daran, dass es vielen Menschen in der Welt nicht so gut geht wie mir. In Brasilien, Amerika, Afrika und anderen Länder wütet das Coronavirus weiterhin. Dort bestimmt Schmerz, Leid und Verlust das Leben der Menschen. In meinem „normalen“ Alltag vergesse ich das manchmal und das tut mir leid. Denn ich weiß, dass die Menschen dort gerade nicht vergessen können.
Das zeigt mir die Geschichte einer Frau, die in den Favelas von Brasilien lebt. Einem Reporter erzählt sie: „Vor ein paar Wochen ist meine Mutter gestorben. Von heute auf morgen ging es ihr sehr schlecht. Ein endloser Husten quälte sie und ihr Fieber stieg immer mehr an. Sie bekam kaum noch Luft. Zum Arzt konnten wir nicht gehen - dazu hatten wir kein Geld. Kurz danach stand ich an ihrem Grab. Es war eines unter vielen Gräbern. Doch es kam noch schlimmer. Auch meine Schwester steckte sich mit dem Virus an. Kein Wunder, wenn man bedenkt, wie eng wir hier alle zusammenleben. Gestern ist sie dann gestorben. Und wieder stand ich vor einem Grab. Der einzige Gedanke, der mir in diesem Moment durch den Kopf ging, war: Warum lässt Gott das zu? Warum müssen hier so viele Menschen sterben und wo anders nicht? Hat Gott uns etwa vergessen?“
Als ich die Geschichte dieser Frau gelesen habe, war ich sehr berührt. Es tut weh zu sehen, wie viel Leid das Coronavirus immer noch auslöst und wie viel Schmerz manche Menschen deswegen ertragen müssen. Mich wundert es nicht, dass die Frau an Gott und ihrem Glauben zweifelt. Doch zu ihr, und zu so vielen Menschen in der Welt, möchte ich sagen: „Verzweifle nicht! Gott hat niemanden vergessen. Deine Mutter nicht, deine Schwester nicht, und auch dich nicht. Denn Gott hat zu uns gesagt: Ich will dich nicht verlassen, noch von dir weichen (Jos 1,5b).“
Durch diesen Satz weiß ich: Gott ist da! In unserer tiefsten Not, in unserem größten Leid. Er verlässt uns nicht und weicht uns nicht von der Seite. Er nimmt uns an die Hand und führt uns wieder aus dem Leid hinaus. Er gibt uns Halt und schenkt uns neue Kraft. Denn Gott vergisst wirklich niemanden! Ganz besonders nicht die Menschen, die gerade viel Leid ertragen müssen. Und auch wir vergessen diese Menschen nicht. In unsere Gebete schließen wir sie mit ein und bitten Gott seine Verheißung „Ich will dich nicht verlassen, noch von dir weichen“ wahrzumachen.
Ihre Pfarrerin Sarah Schiemann